Nach so vielen Tagen Seattle habe ich jetzt endlich Frieden gemacht mit meiner mir eigenen Identität als Reisende. So habe ich festgestellt: Wenn ich allein in fremden, neuen Städten unterwegs bin, dann mäandere ich am liebsten. Ich schau ein bisschen hier und da, gucke mir vielleicht eine Ausstellung an, trinke einen Kaffee, spazierend oder schnellen Schrittes. Was ich scheinbar hingegen nicht tue: mir Tagestouren, Gruppentouren buchen und mich zu Orten bringen lassen. Auch in Seattle gab es also keinen Mt. Rainier für mich, dafür dann das erleichternde Gefühl, da Hier und Jetzt ohne permanenten Sighseeing-Druck genießen zu können. Für die unglaubliche Natur jenseits der Städte müssen nun wohl Fahrstunden genommen werden - oder es ergibt sich, dass jemand anders fährt. Ein weiteres Mal Westküste steht also jetzt schon aus.
Und so war Seattle: Weird, in sich sehr separiert, man möchte fast sagen: segregiert. Auch wenn es ein bestimmtes Publikum immer zu geben scheint, man hat das Gefühl, es sei mit der Integration beziehungsweise mit dem selbstverständlichen Miteinander der weißen und der afroamerikanischen Bevölkerung nicht so weit her. Das fällt vor allem bei gemeinschaftsstiftenden Veranstaltungen wie den Farmers Markets auf, die mind. einmal wöchentlich in den einzelnen Vierteln abgehalten werden. Die saisonalen Produkte aus regionalem Anbau werden zu stattlichen Preisen angeboten. Das frequendierende Publikum ist weißer Mittelstand. "Integration is a myth," wie meine airbnb-Gastgeberin dazu sagen würde.
Trotz der Ähnlichkeit vieler Viertel lassen sich doch Nuancen der Differenz ausmachen, um mal mit Berlin zu sprechen:
Ballard: Prenzlauer Berg mit backsteinroter Potsdam-Gemütlichkeit
Capitol Hill: LGBT und Linksalternative Crowd, allerdings oft mit gesetztem Einstein-Café-Charakter
Columbia City: Miniatur-Bergmannkiez
Queen Anne: schnuckeliges Westend
West Seattle: sympathischer Moabit-Verschnitt
Hillman City: Neukölln vor 10 Jahren
Neben allem Flanieren, Spazieren, Wandern, Meer gucken und baden: Der rote Faden war definitiv die Musik - am Dienstag der Indiepop- Singersongwriter Chris Staples mit famoser Vorband, nämlich Valley Maker, deren Youtubevids leider nicht die gleiche David Graysche Intensität und Rauhheit in sich tragen, wie es live der Fall war. Donnerstag dann ein spontaner Konzertbesuch bei "Tag 2.0", einem Musikexperiment mit fünf Live-Bands unterschiedlicher Genres, die ihre Sets mit jeweils einem gemeinsamen Stück ineinander fließen ließen. R&B, Loop artistry, Soul, Pop fanden so zueinander - und alle warense gut. Mein Favorit: Hobosexual, eine Stonerbluesmetalband (oh ja!), die allein schon für ihren Namen ewigen Fandom verdient. Komischerweise auch beeindruckend: das Frank Gehry Kitschmonstrum EMP, Museum für Musik, Cineastisches und Popkultur im
Allgemeinen. Pädagogisch sicherlich zweifelhaft aufbereitet, mit genügend Kopfschüttelpotential an der visuellen Musikgeschichtenfront (Kniefälle vor Macklemore und Kanye West, braucht's das wirklich?!), aber mit einer geradezu anrührenden, umfassenden Nirvana-Artefakten-Sammlung, die auch ein Kontextualisierungsversuch ist. Und hier ich entdecke lauter neue, laute Musik, vor allem Grunge und Punkbands, die mir peinlicherweisekein Begriff waren. Allein dafür hat der horrende Eintrittspreis allemal gelohnt.
Neue Lieblingslieder: Butthole Surfers - Hey, The Gits - Second Skin, Love Battery - Between the Eyes, Blackouts - Dead Man's Curve. And many more.
Neben der Musik prägt Seattle natürlich das Zwischenmenschliche: der Tankstellenwart Carter, der mir mitten in der Nacht Kaffee und Cookies spendierte und mir nebenbei verriet, dass Seattle eine verdammt hohe Selbstmordrate habe (und der mir so eine Angst vor dem nächtlichen Fußweg machte, dass ich den widerlichen Kaffee sogar brauchte), Sam, der mit mir Chris Staples bewunderte, der leicht dubios bleibende Patrick, von dem ich mich wider aller jemals gelernten guten Ratschläge heimfahren ließ, weil er so viel von Auren quatschte, dass ich bereit war, an das Gute im Menschen zu glauben, oder der schöne, bärtige Hipster Andy. Beschlossen wurde Seattle niveaubefreit beim schon angekündigten Karaokesingen (das Dic Pic ist für manche Leute erschreckenderweise ein Gesprächsthema) und der wohl teuersten Taxifahrt meines Lebens. Dafür hat ja das Vintagekleidchen nur 8 Dollar gekostet.
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Hey Marie,
AntwortenLöschenKlingt spannend, dein Trip. Wünsche dir noch viele schöne, überraschende und spannende Reise-Erlebnisse.
Mir ist übrigens auch schon die eine oder andere Sehenswürdigkeit entgangen, weil Touri-Busse für mich nicht infrage kommen, aber es gibt so oder so immer viel mehr zu sehen, als man in einen gemütlichen Urlaubstag packen kann.
Hey Katharina!
AntwortenLöschenSchön, dass du noch mitliest! Ich bin schon wieder zurück (ich spare mir das tautologische "leider", das dem Satz ja irgendwie ohnehin innewohnt). Portland wurde heute nachgetragen, San Fran folgt...
Gemütlich ist das Stichwort: Ich hab mich schier tot gelaufen. Aber es hat dazu gehört. Nächstes Mal halt ein anderer Trip und eventuell ein dazugehöriger, anderer Modus...