Mittwoch, 20. August 2014

Amerika und Europa-Klischees im Test

Ich weiß nicht, wer geschockter vom jeweils anderen ist: ich von Seattle oder Seattle von mir. Ich steige aus dem Bus, brauche Wegeleitungsinfos und werde zwei mal nacheinander von Seattlern richtig frostig behandelt - die schöne Chinesin schaut mich an, als würden auf mir kleine widerliche Tierchen hausen, und die Intellektuelle, als hätte ich offensichtlich den Verstand verloren. Da erwartet man amerikanische Freundlichkeit und dann sowas! Aber so ist das mit den Klischees: sie stehen immer massiv im Weg rum.

Das verändert sich auch nicht, als ich schließlich an der South. Brandon Street aussteige. Nachdem ich mich durch eine dicke Duftwolke gekämpft habe (Gott sei Dank hat mich Vancouver auf so Einiges vorbereitet, hier bietet die Cannabis Clinic für Neukunden "1 Gram for free" an), beschließe ich, schnell noch eine zu rauchen, bevor ich meiner Airbnb-Gastgeberin die Hand schüttle. Ich laufe also rauchend mit dem überdimensionierten Rucksack und von der Seitenstraße kommt eine dicke, blonde Amerikanerin den Hügel hoch, eine schwere Pappschachtel tragend. Da stehen wir also kurz: die beiden Klischees USA und uraltes, altmodisches Europa. Und wir wissen gar nicht, wie uns plötzlich geschehen ist.

In der nächsten halben Stunden bestätigt sich ihr Bild des Unverständlichen, europäisch Fremden: kein Smartphone, quasi führerscheinlos und dann auch noch Vegetarierin. "Well, if you are a vegetarian, then I'm the opposite. I eat a lot of meat, I mean A LOT" entgegnet sie selbstbewusst, die mit Bacon und Käse triefenden Nachos in sich reinstopfend, die sie sich grad auf dem Heimweg nach der Pediküre gegönnt hat. Auch abseits ihrer Essensgewohnheiten scheint sie mir äußerst repräsentativ zu sein - ein seltsames Gefühl ist das, gleichzeitig beruhigend - weil so konform mit den eigenen Vorurteilen - und gleichzeitig erschütternd in seiner schablonenhaften Trivialität, immer die Dinge vorzufinden, die man ja eigentlich schon erwartet. Überall im Haus befinden sich jedenfalls Familienbilder der properen Familie, blondiert, drapiert, lächelnd.

Danach offenbaren sich jedoch sympathische Nerdismen und etwaige, politisch sympathische Ansichten. Julie hat dem Game of Thrones Fandom eine richtige Krone aufgesetzt: auf ihrer Wade prang ein Tattoo mit den Worten A READER LIVES A THOUSAND LIVES. Der Nerd Julie arbeitet im Health Care Management und ist deswegen kaum zu Hause. Ist sie zuhause, dann läuft Game of Thrones. Dass sie am Arsch der Stadt wohnt, stört sie nicht - und alle airbnbgäste bis auf die seltsame Europäerin hätten ja auch schließlich Autos. Allerdings würden manchmal Anfragen kommen, ob sich hinter der von ihr beschriebenen Diverse Neighborhood irgendwelche messerstechenden Gangsterklischees verbergen könnten. "And then I usually write back: with diverse I mean multi-ethnic, I feel save and finde and so should you. I mean there are lots of black people, but if you've got a problem with that, that probably means you're racist." Am Freitag will sie mit einer Freundin in ein chinesisches Restaurant Karaoke singen gehen - da gehe ich natürlich mit.




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