Erst ist Nichts. Und dann bin ich wach, es ist dunkel, ich bin aus keinem Traum erwacht. Sofort der Gedanke: Raus da, weiter San Francisco entdecken, oder ab in den Boltbus oder in den Amtrak, woanders hin, die brennende Sonne im Nacken, auf der Stirn. Nun die langsame Erkenntnis: Ich bin nicht mehr dort, ich bin hier, in Deutschland, in Ludwigsburg, in der WG, im Bett. Und ich muss nichts entdecken, ich muss aufstehen und arbeiten.
Noch nie war der Jetlag so mental, so unkörperlich körperlich. Den Avatar und den Körper habe ich unlängst wieder in den Alltag entlassen. Aber die ganze Marie hats noch nicht wieder nach Schwaben geschafft. Zu sehr hängt das Gewesene nach, zu real war es, zu interessant.
Die letzte Station ist also San Francisco. Ich humpel fröhlich. Zuerst die Beatnik-Stationen: Der von Lawrence Ferlighetti gegründete City Lights Bookstore / Publisher, der Allen Ginsbergs berühmt-berüchtigte Anthologie "Howl" 1956 veröffentlichte. Der Laden ist schön, kann aber natürlich nicht mit Powells Bookstore mithalten, außerdem ist das Personal zu cool, um hallo oder tschüss zu sagen. Ich strafe sie durch Konsumabstinenz und fahre auf den Telegraph Hill, zahle sogar den Coit Tower, um mir den Rundumblick auf San Francisco zu geben - Alcatraz, Golden Gate, alles lockt, und die anderswo seltsame Mischung aus altem, viktorianischem Häuserbau und moderner Hochhausarchitektur kommt mir zum ersten Mal sinnvoll, ja: schön vor. Von der überlaufenen Lombard Street gehts zur Fishermen's Warft. Es ist ein Ärgernis: Wo in Seattle die Privatgrundstücke den Blick auf das Meer verbargen, tun es hier die aufgebrezelten Piers und Corn Dog Inseln.
Nach einem wundervollen Tamale beschließe ich, mit den Geistern der Beat-Generation Kaffee zu trinken, im Caffe Triéste. Ein italienisches Leckerli in europäischer Betthupferl-Größe landet auf meinem Teller, sofort kommt vom Nebentisch ein "Wow, that's an enormous treat!". John ist Frisör, er hat schon mal dem Bürgermeister von San Francisco die Haare geschnitten, außerdem hat er sich beim Klettern in den Bergen die Knie gebrochen, aber Life is beautiful! Er zeigt mir Fotos, bietet mir Stadtrundfahrten an und schimpft auf political correctness. Dann behauptet er auch noch der Enkel des berühmten Jahrhunderfotografen Paul Strand zu sein. Es ist zu schön, um wahr zu sein - denke ich. Vielleicht ist es aber nur die in Seattle gewachsene Skepsis. Jedenfalls melde ich mich nicht wieder bei Paul, um mir von ihm sein San Francisco zeigen zu lassen - obwohl ich mir sicher bin, dass er mir tolle Ecken vorgeführt hätte, und obwohl ich mir sicher bin, dass er als schwuler Mann keine nächtlichen Autoküsse herbeiwünscht.
Des abends dafür Abendessen mit einem Freund einer Freundin. Er will nach Mission und ich glaube auch ihm kein Wort, als er behauptet, dass sei der schönste Stadtteil, der interessanteste Stadttteil von San Francisco. Aber ich sehe natürlich sofort, dass er Recht hat, als wir ankommen. Mission selbst mag seine dubiosen Ecken haben - grad um den Bahnhof 16th St. Mission herum - aber in den mit Wandbildern versehenen Gassen und auf der Valencia spürt man nix davon. Dafür echtes Kalifornienflair mit Palmen, die aus den Asphaltecken staken, und der stark sichtbare Einfluss der lateinamerikanischen Community. Hier esse ich das vielleicht geilste vegetarische, vegane Essen meines Lebens im Chinese Mission: Reistaler, Bitter Melon, Szechuan Pfeffer und Tofu Haut, mit einer großen Männerhand Koriander drüber. Dann zeigt mir Dave den Dolores Park mit wunderbarem Blick über die Nacht werdende Stadt.
Der Dolores Park liegt zwischen Mission und Castro, und es braucht nur ein paar Minuten bevor wir vor dem historischen Fotoladen "Human Rights Campaign Store" stehen, den Harvey Milk als "Castro Camera" 1973 eröffnete. Das Castro ist unglaublich relaxt, belebt und sympathisch, und nach einem Cookie im Hot Cookie (ich skippe den Penis Cookie, der natürlich angeboten wird) wird der Abend sehr gemütlich im Blackbird beschlossen. Ich schätze, die Zeit für den Moscow Mule läuft ab: Pimms Cup (Pimms, Cucumber-Infused Gin, Ginger Ale) ist mein neuer Lieblingscocktail.
Am nächsten Tag gebe ich mir dann noch mal richtig das Touristenprogramm mit Ocean Beach, Golden Gate Park, Haight und Golden Gate Bridge, bis das Knie mir fast an die Gurgel geht. Das Fazit ist gemischt: während mich Ocean Beach und Golden Gate Bridge mit Fernsichten und Sehnsüchten begeistern, kann ich dem Golden Gate Park (zu viele Straßen) und dem Haight, dem ehemaligen Hippieviertel der Stadt, nichts abgewinnen (die Blumen im Haar sind welk und Räucherstäbchen sollten verboten werden). Kulinarisch beschließe ich den Tag mit der von Dave heiß empfohlenen Chicago Pizza, die wirklich lecker ist, aber immer noch eine amerikanische Pizza. Dabei erhalte ich von Dave Einblicke in die amerikanische Kaffeekultur: "Everyone's really particular about their coffee. If you ask them, what they prefer, they'll go 'I like this one fine Guatemala brand, really dark, with a cardamom note to it.' However, if you assemble a few people and ask them to choose their pick, they will always go for the most bland, watery stuff that's on offer." Ich muss ein bisschen lachen. Schön, dass sich die in allen Dingen selbst überbietende und individualisierte Dienstleistungsvielfalt so einfach und banal selbst entlarvt. Ich nehme seine Worte also mit in den Kaffeeladen, der auf dem Weg zum letzten Amerika-Konzert liegt und bestelle ganz simplen Kaffee, nicht mal nen Cappuchino. Vielleicht habe ich mich grad sogar selbst ertappt gefühlt?
Vor dem Venue verabschiede ich Dave, der noch einen nächtliche Wanderung vor sich hat und rauche eine. Neben mir ein anderer, vereinzelter Raucher, abseits stehend. Groß, dunkelblond, Dreitagebart. Wir werfen uns ein paar interessierte Blicke zu, dann beschließe ich, dass ich noch die Straße ablaufe - der Typ ist bestimmt Barkeeper und eh gleich drinnen. Oder eben nicht. Pustekuchen: Zu späterer Stunde wird sich der Blickkontakt als Dom Maker und damit Mount Kimbie himself (der andere Teil des Duos, Kai, konnte aufgrund von Visaproblemen nicht einreisen) entpuppen und sich vor allem dadurch hervortun, das Publikum mit dem Arsch anzuschauen. So schön sein Set auch in Teilen ist: Ich gebe nie wieder Geld für ein DJ-KONZERT aus, höchstens, wenns als richtige Party erkennbar ist - die der Abend im schönen The Chapel nie so richtig wird.
Am nächsten, ja am letzten Tag gehts gleich noch mal zurück nach Mission, bummeln, Kaffee trinken, schauen, bevor ich nach Sacramento abhaue, das ich undankbar nicht mal mehr als Stadt, sondern nur als Flughafen wahrnehme, obwohl mich der Rezeptionist im Hostel noch in die nächtliche Partyszene schicken mag. Von Sacramento sehe ich also nur: das tote, dunkle Finanzviertel, in dem die Hostelvilla wie ein sehr schönes Hitchcock-Haus thront und das Thai-Restaurant, das unglaublichen Salat serviert. Aber im Grunde fühle ich mich allein durch die Anwesenheit einer Stuttgarterin im Mehrbettzimmer an den Rückflug erinnert, den ich nun antreten muss. Am nächsten Tag fällt mir vor dem Gate beim Taschenwühlen die gemaserte Muschel in die Hand, die ich am Ocean Beach souvenirheischend eingesteckt habe. Ich würde sie gern wieder zurückbringen. Sie fühlt sich ganz weit weg an.
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Kannst du bitte mehr verreisen und darüber schreiben? Danke!
AntwortenLöschenDanke, danke, danke und Gern gern gern! But where iz ze money? Schreit nach Kickstarter-Campaign "Fund Marie's Travelogue". Jetzt werde ich aber größenwahnsinnig.
LöschenThat quote about coffee comes from this gentleman:
AntwortenLöschenhttp://www.ted.com/talks/malcolm_gladwell_on_spaghetti_sauce?language=en
Another great quote: the mind does not know what the tongue wants.
Harhar. Will definitely check out the TED talk, thx for sharing!
LöschenGo for it! Habe selber eine Funding-Kampagne gemacht und kann berichten....
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