Montag, 15. Februar 2010

Der kurze schwarze Blick

Vor Beginn des Films fährt er noch kurz mit der Fingerkuppe über ein Fassbinderbüchlein, fasst sich ins graue, gepflegte Haar und rückt sich anschließend die Brille zurecht. Er ist der perfekte Berlinale-Besucher mit Cord Jacket und ohne aufgeregt wippendes Bein.

Das Licht geht aus.

'L'Indigène D'Eurasie" (nicht ganz falsch, aber doch den Kern des Films verfehlend als "Eastern Drift" übersetzt) nimmt seinen Anfang. Die monotone Erzählstimme aus dem Off, die sich erst wieder am Schluss einschalten wird, und die dröge aneinander klatschenden Wellen sind tongebend: "Vielleicht gibt es diese Geschichte", scheint uns ein behäbig dahin gleitendes Schiff zu sagen, "aber ich könnte auch eine andere erzählen."

Die Figuren nämlich, die sich immer nur kurz in einem anderen nackten Körper vergraben, und dann wieder fliehen, gen Westen, gen Osten, den Geliebten nach - doch allesamt in die Dunkelheit, sie sind nur Symbolträger einer Gesellschaft, in der die Anhaltspunkte und Sicherheiten abhanden gekommen sind. Deswegen verzichtet der Regisseur Sharunas Bartas auf eine genaue Handlungsführung, verlässt sich auf kurze Momentaufnahmen und schafft so ein Mosaik der Heimatlosigkeit, dem alle zu entkommen versuchen. Paris, Litauen und Moskau sind die Schauplätze dieser Fluchtversuche, die schon vorab zum Scheitern verurteilt zu sein scheinen. Zu schwermütig ist Gena, der Drogendealer, der nur noch einen letzten Deal plant; zu illoyal seine Partner; zu verzweifelt seine beiden schönen Freundinnen. Und so wird der Wunsch nach einem anderen, besseren Leben unausweichlich zum blutigen, aussichtslosen Alptraum; eine Spirale aus schlechten Entscheidungen, die der Antiheld des Films so emotionslos und resigniert hinnimmt wie dann am Schluss sein eigenes Ende.

Irgendwann in der Mitte des Films, als die russische Freundin Gefahr läuft, von zwei betrunkenen Kerlen belästigt zu werden, platzt dem perfekten Berlinale-Besucher neben mir der plötzlich der Kragen und er flüstert: "Die sind ja noch schlimmer als die Türken" etwas lauter, als beabsichtigt. Dass ist jetzt also auch Berlinale, denk ich mir. Der Normalo, der nur aus Prinzip nicht NPD wählen würde, schiebt halt seinen widerlichen Arsch in die gleichen Sessel wie Di Caprio (Fresse) und Dieter Kosslick. Jetzt schwafelt er mit fauligem Atem etwas von "Gegen die Wand" - er hat bestimmt für jedes überholte Klischee nen Film parat; vielleicht sein einziger Grund, Cineast zu spielen: die Untermauerung einer Weltanschauung, für nur 7 Euro.


Vor mir auf der Leinwand eine Panoramaaufnahme von Paris, dann eine von Moskau und schließlich eine von Litauen - sie wirken wie die Anfänge eines neuen und immer gleichen Kapitels, ein einziges Welt - und gleichzeitig Stimmungsbild - groß, dreckig, gefräßig. Auch Berlin ließe sich problemlos einreihen, denke ich, aus dem Kino in die Kälte fallend. Auch hier könnten Bartas' Figuren - L'Indigènes D'Eurasie: die Ureinwohner zweier Kontinente, überall zu finden und nirgendwo daheim - umherirren. Man würde sie nicht erkennen - vielleicht, weil man ihnen selbst schon zu sehr ähnelt. Der Moloch kriegt uns alle.
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